Trotz und Utopie –
die FDJ
20 Jahre nach dem Mauerfall
Der Eiserne Vorhang ist verschwunden.
Die DDR ist Geschichte.
Die FDJ existiert noch.
Diese Vorstellung war für mich komplett absurd, im Sommer 2009, als ich das mitbekommen habe. Ich bin im Westen aufgewachsen und alt genug, um die Existenz der DDR noch bewusst miterlebt zu haben. In meiner Kindheit war meine Mutter in die Republikflucht eines Freundes aus Ost-Berlin involviert, direkt nach seiner Flucht hat er für eine Weile bei uns gewohnt.
Vom Herbst 2009 bis zum Herbst 2010 habe ich die verbliebenen und neu hinzugekommenen Mitglieder der FDJ begleitet. Die FDJ (Freie Deutsche Jugend) wurde in den dreißiger Jahren von jungen Deutschen im Exil gegründet und existierte in den ersten Nachkriegsjahren in beiden deutschen Staaten. Im Westen wurde sie 1951 verboten; in der DDR entwickelte sie sich zu einer mächtigen und omnipräsenten Massenorganisation. Als Gründungsdatum gilt der 7. März 1946; an diesem Tag erteilte ihr die Sowjetische Militäradministration in Deutschland die Genehmigung für die Gründung einer »überparteilichen, einigen, demokratischen Jugendorganisation«. Überparteilich blieb die FDJ nicht, 1952 erkannte sie die Führungsrolle der SED an und 1957 erklärte sie sich selbst zur »sozialistischen Jugendorganisationder DDR« und als »zuverlässiger Helfer und Kampfreserve der Partei der Arbeiterklasse«. Sie war der einzige zugelassene Jugendverband der DDR und eng mit dem Schulsystem verwoben. Eine Mitgliedschaft war de facto obligatorisch für den beruflichen und sozialen Aufstieg; kurz vor der Wende trugen knapp 90% der Jugendlichen das blaue Hemd der FDJ. Ihre Publikation »Junge Welt« war die auflagenstärkste Tageszeitung in der DDR. Wer die Mitgliedschaft verweigerte, hatte einen schlechten Stand.
In den Wendejahren verließen so gut wie alle Mitglieder die FDJ und ihr Vermögen wurde von der Treuhand eingezogen. Nachdem die SED 1990 zur PDS geworden war, erkannte sie die FDJ nicht mehr als ihren Jugendverband an.
Trotzdem ist die FDJ heute noch aktiv: es gibt mehr oder weniger organisierte Gruppen im Osten Deutschlands, aber und vor allem auch in westdeutschen Städten wie Bremen, Frankfurt am Main und München. Für sie gilt gespaltenes Recht: die Organisation ist aus historischen Gründen im Osten erlaubt, im Westen ist sie nach wie vor illegal. Die FDJ tritt vielfach (und konfliktreich) in Kooperation mit anderen linken Gruppen in Erscheinung. Über die Anzahl ihrer Mitglieder macht sie keine Angaben, Schätzungen schwanken zwischen deutschlandweit ein paar Dutzend und 200. Nach meiner persönlichen Einschätzung sind es um die 60, Tendenz fallend. Viele von ihnen sind um die 20 Jahre alt, haben die DDR also entweder gar nicht oder nicht bewusst erlebt – und aus dem Westen. Die FDJ lehnt die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten als »widerrechtliche Annexion des Staatsgebietes der DDR seitens der BRD« ab. Ihr gilt die DDR als das bessere Deutschland, ihr Wunsch ist ein sozialistischer Staat nach ihrem Vorbild.
»Die Jugend braucht die FDJ, sonst wird sie sterben. Sie wird von der Bourgeoisie zermalmt werden«
Angela Kammrad, Regisseurin der Bremer Agitpropgruppe »Roter Pfeffer« im Juli 2010
Nachtrag: Jetzt, Mitte 2023, ist die FDJ nach wie vor aktiv. An ihrer Spitze steht nicht mehr Ringo Ehlert aus Ost-Berlin, sondern Kattrin Kammrad aus Bremen. Der Anteil ihrer Mitglieder, die in der DDR gelebt haben, ist noch geringer als vor 13 Jahren.
Die Arbeit »Trotz und Utopie. Die FDJ 20 Jahre nach dem Mauerfall« hing als als Einzelausstellung in der Berliner Galerie »Alles Mögliche«, in Köln in der Gruppenausstellung »Was bleibt« in der V8 Galerie für Zeitgenössische Fotografie und in der Michaela Helfrich Galerie in Berlin zu »Nacht und Nebel«. Sie war auf der Eingangsseite von ZEIT ONLINE publiziert und ist in Teilen Bestandteil der ständigen Sammlung der »Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – Zeitgeschichtliches Forum Leipzig«.
The Iron Curtain has disappeared.
The GDR is history.
The FDJ still exists.
This idea was completely absurd to me in the summer of 2009 when I realised it. I grew up in the West and am old enough to have consciously experienced the existence of the GDR. When I was a child, my mother was involved in the escape of an East Berlin friend from the GDR; immediately after his escape, he lived with us for a while.
From autumn 2009 to autumn 2010 I accompanied the remaining and new members of the FDJ. The FDJ (Free German Youth) was founded in the 1930s by young Germans in exile and existed in both German states in the first post-war years. In the West it was banned in 1951; in the GDR it developed into a powerful and omnipresent mass organisation. The date of its founding is 7 March 1946, when the Soviet military administration in Germany gave it permission to found a "non-party, united, democratic youth organisation". The FDJ did not remain non-partisan; in 1952 it recognised the leading role of the SED and in 1957 it declared itself the "socialist youth organisation of the GDR" and a "reliable helper and fighting reserve of the party of the working class". It was the only authorised youth organisation in the GDR and was closely interwoven with the school system. Membership was de facto compulsory for professional and social advancement; shortly before the fall of the Wall, almost 90% of young people wore the blue shirt of the FDJ. Its publication "Junge Welt" was the highest-circulation daily newspaper in the GDR. Those who refused membership had a bad standing.
After the political turn 1989/90, almost all members left the FDJ and its assets were confiscated and it was no no longer recognised as youth association of the German Left.
Nevertheless, the FDJ is still active today: there are more or less organised groups in East Germany, but also and especially in West German cities like Bremen, Frankfurt am Main and Munich. They are subject to split laws: for historical reasons the organisation is allowed in the East, in the West it is still illegal. The FDJ often (and conflictually) appears in cooperation with other left-wing groups. The FDJ does not give any information about the number of its members, estimates vary between a few dozen and 200 throughout Germany. According to my personal estimate, there are around 60, and the number is falling. Many of them are around 20 years old, so they either did not experience the GDR at all or did not experience it consciously - and from the West. The FDJ rejects the reunification of the two German states as an "illegal annexation of the territory of the GDR by the FRG". They consider the GDR to be the better Germany, and their wish is for a socialist state based on their model.
"The youth needs the FDJ, otherwise it will die. It will be crushed by the bourgeoisie "Angela Kammrad, director of the Bremen agitprop group "Red Pepper" in July 2010
Addendum: Now, in mid-2023, the FDJ is still active. At its head is no longer Ringo Ehlert from East Berlin, but Kattrin Kammrad from west-german town of Bremen. The proportion of its members who lived in the GDR is even smaller than 13 years ago.
The work "Defiance and Utopia. Die FDJ 20 Jahre nach dem Mauerfall" hung as a solo exhibition in the Berlin gallery "Alles Mögliche", in Cologne in the group exhibition "Was bleibt" in the V8 Galerie für Zeitgenössische Fotografie and in the Michaela Helfrich Galerie in Berlin for "Nacht und Nebel". It was published on the front page of ZEIT ONLINE and parts of it are part of the permanent collection of the "Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland - Zeitgeschichtliches Forum Leipzig"
